Als die Selektion noch per Fingerzeig funktionierte
Die Schweizer Chemie-Olympiade feiert ihren 30. Geburtstag. Maurice Cosandey freut das besonders, denn die Olympiade ist sein Kind. Eine kleine Geschichte der Chemie-Olympiade in 5 Etappen.
Maurice Cosandey im Labor an der EPF Lausanne. Bild: Mirjam Sager, Wissenschafts-Olympiade
26. April 2017
EPF Lausanne, Chemielabor:
Kisten mit Reagenzgläsern stapeln sich, Notizen und Fläschchen bedecken den Tisch. Chemie ist das, was Maurice Cosandey seit 60 Jahren bewegt. Er hat als Professor an der EPFL und als Lehrer am Gymnasium gearbeitet. Heute ist der 80-Jährige pensioniert. Vor 30 Jahren beginnt für ihn das Abenteuer Chemie-Olympiade.
6.-15. Juli 1986
Leiden, Holland, 18. Internationale Chemie-Olympiade:
Cosandey reist als erster Schweizer an eine internationale Olympiade. Mitten im Kalten Krieg entstehen in Osteuropa in den 50er und 60er Jahren die Wissenschafts-Olympiaden. Die Organisatoren laden die Schweiz früh zu den Wettbewerben ein. Doch erst 1986 erhalten die Chemielehrer den offiziellen Einladungsbrief – vorher ist dieser in Bundesbern untergegangen. Cosandey ist der Einzige, der Interesse zeigt. Er reist nach Holland, kehrt begeistert zurück und will das erste Schweizer Team gründen. Doch wie? Selektionen in 26 Kantonen? Viel zu kompliziert, meinen die Lehrpersonen.
Man einigt sich auf ein Team aus der Romandie. Irgendwie kann sich aber auch dort niemand für die Idee begeistern. Cosandey schreitet zur Tat. Er geht in sein Klassenzimmer und zeigt auf seine vier besten Schüler: „Du, du, du und du, ihr seid jetzt die offizielle Schweizer Chemie-Delegation für die nächste Internationale Chemie-Olympiade IChO.“ Das Staunen war gross. Cosandey musste den Schülern erklären, was es mit der IChO auf sich hat.
6.-15. Juli 1987
Veszprém, Ungarn, 19. Internationale Chemie-Olympiade:
Die Schweiz belegt die letzten Plätze. Kein Wunder, meint Cosandey. Denn wer gut sein will, der muss viel üben und dafür hätten sie eben keine Zeit gehabt. Überhaupt schneiden die osteuropäischen Länder besser ab. Ein kleiner Erfolg für sie in einer Zeit, die immer noch vom Ost-West-Denken geprägt ist. Mit den Jahren verbessern sich die Resultate der Schweiz. 1992 und 1996 gewinnen zwei Schweizer Jugendliche eine Goldmedaille.
Cosandey lernt Menschen kennen, die er niemals vergisst. 1986 trifft er einen polnischen Chemiker – ein politischer Aktivist, den man gerade erst aus dem Gefängnis entliess. Dies, weil das polnische IChO-Team ohne ihn sehr schlecht abschnitt. 1986 begleitet er das Team wieder, es holt Gold. Der Gewinn für alle: 1 Tag mehr Ferien im Westen. Die Olympiaden, das war eben auch eine politische Angelegenheit. Stolz ist Maurice Cosanday auf seine litauische Ehren-Schärpe: „An einer Tagung überzeugte ich einen litauischen Chemiker, auch an der IChO mitzumachen.“ Dieser stellt ein Team zusammen. 1990, just als sich Litauen von der Sowjetunion unabhängig macht, nimmt das Team an der IChO teil. Zwei Jahre später wird der Chemiker Bildungsminister von Litauen – „auch ein bisschen wegen mir“, schmunzelt Maurice Cosandey.